Sonntag, 16. Juni 2013
Ich komme gerade aus dem Kino und bin noch ziemlich mitgenommen. "Die Jagd" - schaut ihn euch an, unbedingt.
So einen intensiven Film habe ich lange nicht mehr gesehen. Mein Taschentuchverbrauch war enorm. Ich könnte sagen, dass lediglich Heuschnupfentränen flossen, aber das wäre gelogen. Tränen der Wut, der Trauer, des Mitleids, der Machtlosigkeit. Und gleichzeitig die Freude darüber, so einen wahrhaftigen Film sehen zu dürfen. Einen Film, der keine bombastischen Effekte, keine Fantasywesen oder -welten braucht, um groß zu sein. Einen Film, der unsere Welt zeigt, die Realität, wie sie wohl wäre - ob man das zugeben will oder nicht - wenn. Ja, wenn was?

Wenn ein kleines Mädchen, Klara, behauptet, Lucas, der Erzieher im Kindergarten sei gemein zu ihr gewesen, habe sich sexuell an ihr vergangen. Warum sagt sie das? Warum lügt sie? Warum glaubt jeder dem Mädchen und keiner Lucas?
Das alles fragt der Film, sucht nach Antworten, zwingt sie aber nicht auf, dazu ist er viel zu subtil.
Die mit der Situation überforderte Kindergartenleiterin, die eine solche Unterstellung natürlich ernst nehmen muss, die Eltern des Mädchens - der Vater ist Lucas' bester Freund - informiert, und auf dem Elternabend auch alle anderen. Die Erwachsenen, die nur das Beste wollen, aber eben auch Informationen und sich nicht bewusst sind, dass sie die Macht haben, dem Mädchen Worte in den Mund zu legen. Die Erwachsenen, die schon längst nicht mehr zuhören, als Klara erkennt, dass sie vielleicht einen Fehler gemacht hat. Die Erwachsenen, die Angst um ihre Kinder haben und selbst zur Tat schreiten, als der Prozess vor Gericht nicht das erhoffte Ergebnis bringt.

Der Stein kommt ins Rollen - Lucas wird gemieden, gehasst, gejagt - und fliegt schließlich durch Lucas' Küchenfenster. Sein Leben, das er so mühsam nach der Scheidung von seiner Frau und dem Verlust seines Arbeitsplatzes wieder aufgebaut hatte, liegt erneut in Scherben.

Der Film schafft es, die Geschichte behutsam, aber nicht verzerrt zu erzählen. Es geht um Lucas - großartig gespielt von Mads Mikkelsen - der erlebt, wie die Welt aus den Fugen gerät, um seine Zweifel, um seinen Zorn, der lange braucht, aber sich dann doch endlich seinen Weg bahnt.
Lucas gegenüber steht das ganze Dorf; es gibt nicht mehr viele, die ihm noch glauben.

Aus diesem Thema hätte man leicht eine plumpe Story machen können - hier schwarz, da weiß, gut und böse, ganz einfach, vermutlich noch mit Happy End. Aber genau das macht der Film nicht. Er behandelt das Thema so diffizil und vielschichtig, wie es behandelt werden muss, facettenreich und keinesfalls eindeutig oder vorhersehbar. Ein gutes Ende gibt es nicht. Ein schlechtes auch nicht. Eben irgendwas dazwischen.
Dieses Dazwischen ist es, was den Film ausmacht. Was mich von vorne bis hinten hat mitfiebern, mitfühlen lassen. Die Spannung ist da, durchgehend, mal unterschwellig, mal zum Greifen spürbar. Es ist keine schaurig-schöne Spannung, sondern eine unbequeme. Der Film will nicht gefallen, er will zu denken geben, und das ist es, was mir gefällt.

Als die Lichter wieder angingen, saßen ich und auch die anderen Zuschauer wie erschlagen da. Keiner konnte aufstehen. Mit dem Ende des Films fiel uns eine Last von den Schultern, nur, um sich dann im Kopf und im Magen festzusetzen. Dort sitzt sie noch und wird mich wohl noch lange Zeit beschäftigen.


Manchmal
1. Gedanke... ist es gut kein Mann zu sein
2. Gedanke... paßt zu Deinem Thema
3 .Gedanke... hilflosehoffnungslose Geschichte, Geschichte?
4+5. Gedanke... will ich (nicht) sehen

Dank für die Interesse weckende Filmkritik
ML
wenn ich ihn sehe, sehe ich ihn