Mittwoch, 23.05.2012
In letzter Zeit scheinen es die Freitage irgendwie nicht gut mit mir zu meinen. Nun folgen zwei Leidensgeschichten, natürlich maßlos übertrieben und mitleidheischend.

Leidensgeschichte Nr.1 - Freitag, 11. Mai
Alles fängt damit an, dass Sóley in der Zeit als ich die Zwillinge in den Kindergarten bringe, im Auto eine halbleere Cola-Flasche in die Finger kriegt - Rakel könnte sich wirklich mal abgewöhnen, die nicht wieder verschließbaren Glasflaschen zu kaufen und sie dann auch noch im Auto stehen zu lassen - und auf dem Fahrersitz verschüttet. Das Material des Sitzes ist anscheinend hundertprozentig wasserabweisend, sodass sich eine beachtliche Cola-Pfütze gebildet hat. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als den Sitz so weit wie möglich zurück zu schieben, mich nur auf den vorderen Rand zu setzen und zu versuchen, so das kurze Stück bis zur Schule zu fahren. Schonmal versucht, Auto zu fahren ohne dich anzulehnen? Zum Glück geht es erst bergauf, sodass die Suppe sich nach hinten ergießt und meine Hose trocken bleibt.

Weiter geht’s dann am Nachmittag. Da mache ich meine ersten Erfahrungen mit dem isländischen Apothekenwesen, denn Sóley braucht dringend neue Medizin. Bisher kannte ich das Vorgehen in einer Apotheke nur als Reinkommen, Rezept hinlegen, Medikament bekommen, Bezahlen, Rausgehen. Ein Vorgang von maximal 5 Minuten. Nicht so hier. Obwohl Sóley ja wirklich regelmäßig neue Medizin braucht, dauert es laut Apothekenfrau noch eine Weile, bis alles fertig ist. Nachdem ich Sóley abgeholt habe und bevor ich sie nach Gúfuskálar fahre, plane ich also einen kurzen Zwischenhalt in der Apotheke ein, wo das Personal dann schon eine Dreiviertelstunde Zeit hatte, die Medizin bereit zu stellen.
Verzeihung, sprach ich von einem kurzen Zwischenhalt? Ich darf dann gut nochmal eine halbe Stunde warten, in der ich mir den Kopf darüber zerbreche, was die vier Apothekerinnen eigentlich die ganze Zeit machen, in der ich Spaß daran habe, die anderen Kunden zu beobachten, die genauso lange warten müssen, bis sie bekommen, was sie möchten, in der mir klar wird, warum die Apotheke das einzige mir bekannte Geschäft in Ólafsvík ist, dass jeden Wochentag durchgehend bis 18 Uhr geöffnet hat.
Ich sitze also und schaue mich um, ich schaue mich um und sitze. Ein extra Wartezimmer gibt es nicht, aber immerhin eine ganze Reihe Stühle, allerdings setzt sich außer mir niemand hin. Echte Isländer stehen die Apothekenwartezeit wohl lieber durch. Die Apotheke ist nicht nur eine Apotheke, sondern gleichzeitig auch eine Parfümerie, ein Kiosk, eine Drogerie. Hier kann man Rucksäcke kaufen und Nagelsets (ich spreche von Fingernägeln, nicht von Wandnägeln, das hätte mich dann noch mehr verwundert), Schwimmbrillen und Babyspielzeug. Alles, was man sich nur wünschen kann, aber vielleicht nicht unbedingt dann, wenn man in einer Apotheke steht und möglichst schnell bedient werden möchte.
Ich weiß, ich weiß, mittlerweile sollte mir klar sein, dass es in Island kein „möglichst schnell“ gibt, wenn es hier noch nichtmals ein „schnell“ gibt, aber trotzdem fragt sich die Deutsche in mir dann doch, warum zwei Angestellte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machen, eine andere jeden argwöhnisch beäugt, der ein Produkt aus den frei zugänglichen Regalen nimmt (Preisschilder gibt es übrigens nicht, warum auch immer) und nur eine sich um das kümmert, was der Grund dafür ist, warum die Kunden Schlange stehen: Die Medizin.
Im Laufe meiner Beobachtungen stelle ich fest, dass die von den Kunden vorgelegten Rezepte strengstens geprüft und erst dann, wirklich erst dann, die genaue Menge herausgegeben wird. Natürlich nicht bevor jede einzelne Schachtel und jedes einzelne Glas mit einem unterschriebenen Etikett versehen wurde, auf dem der Name der Person steht, für die dieses Medikament bestimmt ist, wann wie viel davon eingenommen werden muss, und nicht bevor all diese etikettierten Medikamente in eine weiße Papiertüte gepackt werden, die dann, keine Frage, ebenfalls ein Etikett abbekommt.
Diese Prozedur ist vermutlich der Hauptgrund für die langen Wartezeiten, aber ich vermute, dass der Computer im Hinterzimmer, den ich nur erahnen kann, und der damit verbundene Etikettendrucker sowie die vermutlich fehlende Computergeschicklichkeit der vier betagten Damen ebenfalls eine wichtige Rolle dabei spielen.
Gerade, als sich meine Geduld dem Ende zuneigt, schneller als sonst, weil es Freitag ist und es zudem noch regnet, hält die Apothekenfrau mir eine große Papiertüte entgegen, voll mit dem von mir Ersehntem. Aber bevor ich zugreifen kann, soll ich bezahlen. Was? Bezahlen? Rakel hat gesagt, die Medizin sei schon längst vorbezahlt, deshalb habe ich mir darüber gar keine Gedanken gemacht.
Grummelnd fahre ich nach Hause, um Geld zu holen. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich die Wartezeit wesentlich sinnvoller nutzen können. Als ich Rakel sage, dass ich doch bezahlen muss, will sie protestierend in der Apotheke anrufen bevor ihr einfällt, dass es dort kein Telefon gibt. Eine Apotheke ohne Telefon? Dieser Laden kommt mir immer merkwürdiger vor, ehrlich.
Also beschließen wir, erstmal zu bezahlen, geht ja nicht anders, Sóley braucht die Medizin fürs Wochenende. Da ich wie so oft die einzige Person mit Bargeld im Haus bin, strecke ich das Geld vor, noch grummeliger, da ich so kaum noch Geld fürs Wochenende habe.

Dann mache ich mich mit Sóley, die die ganze Zeit im Auto warten musste - sämtliche Cola-Flaschen, egal ob offen oder zu, hatte ich vorher entfernt - endlich endlich auf den Weg nach Gúfuskálur. Sóleys Windeln hätten schon beim Abholen aus der Schule dringend gewechselt werden müssen, der Geruch im Auto trägt nicht zur Senkung meiner Grummeligkeit bei. Als wir um 18 Uhr endlich ankommen - sonst bringe ich sie meistens schon um 16 Uhr hin - finde ich das Haus verschlossen vor. Natürlich merke ich das erst, als ich den Rollstuhl aus dem Auto und Sóley in den Rollstuhl gehievt habe, es regnet übrigens immer noch und ich habe keine Jacke dabei. Die Tür ist also abgeschlossen, alles dunkel, niemand da. Also Sóley und Rollstuhl wieder ins Auto und Rakel anrufen. Genau jetzt muss mir mein Handy natürlich mitteilen, dass das Guthaben aufgebraucht ist. Oh, ihr hättet mich fluchen hören sollen.

Zurück nach Hellissandur, dort in der Tankstelle das Telefon benutzen und Rakel anrufen. Rakel ruft mich zurück, es hätte irgendwie ein Missverständnis gegeben, Gúfuskálar ist dieses Wochenende zu, Sóley und ich fahren wieder nach Hause. Das war's für diesen Freitag, hat ja auch gereicht.

Leidensgeschichte Nr. 2 - Freitag, 18. Mai
Dieser Freitag kann es leidensmäßig zum Glück nicht mit dem letzten aufnehmen, aber dennoch kann ich mir schönere Wochenabschlüsse vorstellen. Der Kindergarten hat zu, Brückentag, Rakel und Eysteinn gehen arbeiten, also bin ich mit den Zwillingen und Jón bis zum Nachmittag alleine. Da die Schule nicht zu hat, ist Inga, das Nachbarsmädchen, habe ich schonmal von erzählt, seine erste Spielanlaufstelle, nicht da. Das finde ich schlecht, ich will ehrlich sein, ich hatte gehofft, dass er schnell zu einem Spielkameraden verschwindet und ich ihn damit für einen Großteil der Zeit los bin, da die Kombination Zwillinge und Jón nach wie vor sehr explosiv ist.
Jóhanna, ebenfalls Nachbarsmädchen und Ingas Schwester, seit Neuestem Vorbild, Spielkamerad und beste Freundin der Zwillinge (dazu später mehr), geht in Hellissandur in den Kindergarten, der heute auf hat, deshalb ist auch sie nicht zu Hause. Das finde ich gut. Warum? Wie gesagt, dazu später mehr.
Der Vormittag geht erstaunlich schnell rum, was aber nicht bedeutet, dass er unanstrengend wäre. Draußen spielen, drinnen spielen, Toast machen, noch mehr Toast machen. Dann habe ich keine Lust mehr auf drei Kinder und laufe mit Jón und den Zwillingen auf gut Glück zu einigen von Jóns Kindergartenkameraden, bei einem darf er dann auch spielen.
Während die Zwillinge Mittagsschlaf machen, putze ich die Badezimmer, denn freitags ist ja auch mein Putztag für unser Haus. Als ich fertig bin und auch ein bisschen die Beine hochlegen will, wachen die Zwillinge wieder auf, Rakel kommt von der Arbeit wieder, das heißt für mich, dass ich den Rest des Hauses putzen kann, während Rakel Pizzateig macht und die Kinder rein und raus laufen. Oh, wie ich es hasse, bei vollem Haus zu putzen. Also beeile ich mich und bin in einer Rekordzeit von anderthalb Stunden fertig, das habe ich noch nie geschafft.
Eysteinn kommt wieder, dann gehen er und Rakel zum Golfplatz, jetzt bin ich mit den Zwillingen und Jón inklusive drei Freundinnen alleine. Sie rennen rein und raus, Jóhanna kommt dazu, jetzt rennen die Zwillinge auch rein und raus, gehen irgendwann zu ihr rein, aber das kommt mir gerade recht, denn so kann ich einfach mal durchschnaufen und noch ein bisschen Toastkrümel auffegen bis Rakel und Eysteinn heimkommen um ihnen dann die aufgedrehten und noch gar nicht müden Kinder übergeben und mich schleunigst in mein Zimmer zurückzuziehen. Während die Kinder noch bis fast Mitternacht weiterspielen, zu meinem Leidwesen meistens bei mir vor der Zimmertür, bin ich fix und fertig und warte, bis sich die Lage etwas beruhigt und es endlich etwas dunkler wird, damit ich schlafen kann. Das war also die Leidensgeschichte Nr. 2, wer weiß, was der kommende Freitag für mich bereit hält. „Die Leiden der jungen Ester“, Teil 3? Ich hoffe nicht.

Aber eine Woche besteht ja nicht nur aus Freitagen, also was ist zwischen diesen beiden fiesen Freitagen alles passiert? Mal sehen, was ich noch zusammenkriege.

Der Englischkurs ist nun endgültig vorbei, das ist wunderbar, jetzt kann ich endlich wieder lesen, wonach mir der Sinn steht. Der letzte Vokabeltest am Donnerstag, dem 10., war nicht schwieriger als die vorigen und für das anschließende eher oberflächliche Interview über das Buch hätte ich mich kaum vorbereiten brauchen, ja, ich gehe sogar so weit zu behaupten, ich hätte das Buch noch nicht einmal vollständig lesen zu brauchen. Ich will ja nicht überheblich wirken, aber in den Vokabeltests hatte ich nie weniger als 95%, in den Hausaufgaben eh immer 100% und für das Interview auch. Und das für einen Kurs, dessen Note absolut unwichtig für mich ist. Nicht schlecht, oder? Ich brauchte das Buch übrigens doch nicht zusammenzufassen, das war nur für die Leute, die zwei dünne Bücher anstatt ein dickes gelesen hatten. Bei denen ging das Interview dann über das eine Buch und die Zusammenfassung musste über das andere gemacht werden, aber sollte auch höchstens 500 Wörter lang sein. Habe ich mich im lockerleichten Niveau des Kurses doch nicht getäuscht.

Am Sonntag, dem 13. war ich nachmittags mit Laura (dem Mädchen, das auf Brimilsvellir war) erst im Café in Hellissandur und danach auf dem Konzert des Kinderchors. Das Konzert war gut, der Kuchen danach war noch besser. Den hatten wir uns aber auch redlich verdient, denn beim Konzert gab es einen Mitmach-Teil, bei dem wir uns gesangstechnisch verausgaben konnten. Wir hatten uns genau richtig hingesetzt, der Block links von uns hatte Text, isländisch natürlich, der Block rechts von uns auch, aber wir in der Mitte mussten lediglich an der richtigen Stelle aus vollem Halse „Piep piep piep“ singen, das haben wir noch gerade so hinbekommen.

Dann gibt es noch eine wichtige Neuerung. Die Neuerung heißt Véronica und ist eine von Rakels Schülerinnen in der 10. Klasse. Sie kommt manchmal nachmittags, wenn ich sonst mit allen Kindern alleine wäre, um mir zu helfen bzw. sich um die Zwillinge zu kümmern, die meistens nur raus raus raus wollen, während ich Sóley drinnen in Ruhe zu Essen geben kann. Meine erste Reaktion als Rakel und Eysteinn mir das mitgeteilt haben war ein innerer Aufschrei: Nein, nehmt mir nicht die Zwillinge weg! Aber Véronica ist nett, wir kommen gut miteinander aus und die Zwillinge mögen sie. Ursprünglich war geplant, dass Véronica drei Mal in der Woche nachmittags kommt, denn Rakel und Eysteinn fahren immer noch die Abnehm-Schiene und haben sich für ein neues Training angemeldet, das eben drei Mal wöchentlich stattfindet.
Letzte Woche waren sie zum ersten Mal dort, Eysteinn hatte mir vorher noch erzählt, dass es sich um ein armeeähnliches Training handelt, ja, er sprach sogar von einem Boot Camp. Sie also warm eingepackt los für eine Stunde knallhartes Training im Freien. Nach zwanzig Minuten, wir sitzen mit den Zwillingen am Esstisch, hören wir, wie jemand herein kommt und wundern uns. Es ist Rakel, die sofort zum Eisfach stürzt, um Eiswürfel rauszuholen, um sie auf ihren Mund zu pressen. Eysteinn folgt ihr, das schlechte Gewissen steht ihm ins Gesicht geschrieben. Die Aufregung ist groß, besonders bei den Zwillingen, die jetzt sehen, dass sich auch erwachsene Leute mal weh tun. Es trug sich Folgendes zu: Bei der ersten Übung im Training hat Rakel einen 9 Kilo schweren Medizinball voll ins Gesicht bekommen. Und wer hat den Ball geworfen? Richtig, Eysteinn. Rakels Nase ist geschwollen, die Lippe auch, am nächsten Tag geht sie zum Arzt, der die Zähne etwas in Ordnung bringen muss. Wer tut sich auch freiwillig ein Boot Camp-Training an?
Bisher waren sie nicht wieder da, ich glaube, sie beschränken sich vorerst wieder aufs Golfen und das abends, wenn Sóley schon im Bett ist, dann braucht Véronica nicht zu kommen.

Mich hat es, ehrlich gesagt, schon etwas gestört, dass einfach so über meinen Kopf hinweg entschieden wurde, dass ich Unterstützung brauche. Mir wurde die Entscheidung mitgeteilt, beschlossene Sache: Wenn Véronica kommt, kümmert sie sich um die Zwillinge, denn sie spielt gerne mit Kindern, und ich mich um Sóley. Klar, es ist schon besser und deutlich entspannter so, sowohl für mich als auch für Rakel und Eysteinn, die dann ganz beruhigt Golf spielen können, aber trotzdem hätten sie mich ja nach meiner Meinung fragen können, oder?

Was mich aber noch viel mehr erstaunt hat, ist, wie wichtig ihnen ihre Freizeit sein muss, wenn sie mich bezahlen und dazu noch Véronica, um so oft wie möglich Golfen zu können. Ich weiß, dass Geld in dieser Familie kein Problem darstellt, aber trotzdem: Ich habe doch keine 5 Kinder, wenn ich nicht ab und zu auch mit ihnen spielen, raus gehen oder einfach Zeit mit ihnen verbringen möchte. Einerseits kann ich Rakel und Eysteinn verstehen. Ihnen reichen vermutlich die Wochenenden die sich dank ihrer Inkonsequenz gegenüber den Kindern als eher unentspannt gestalten. Aber trotzdem kenne ich keine andere Familie, egal, ob 2, 3 oder 5 Kinder, die drei Mal wöchentlich nach der Arbeit auf den Golfplatz gehen können und wollen. Aber ich will mich ja gar nicht beklagen, wenn sie anders drauf wären, wäre ich jetzt nicht hier und das wäre schade.

Obwohl ich zugeben muss, dass ich nicht mehr ganz so traurig darüber bin, dass sich mein Aufenthalt hier langsam, aber stetig dem Ende zuneigt. Woran das liegt? Hauptsächlich an Jóhanna, dem vorhin schon erwähnten Nachbarskind, vielleicht ein Jahr älter als die Zwillinge, und eine richtige Rotznase, verzeiht mir den Ausdruck. Ganz am Anfang meines Jahres hier fand ich Jóhanna noch süß, aber nur, weil ich da noch nicht viel mit ihr zu tun hatte. Da waren die Zwillinge noch klein, konnten kaum reden, geschweige denn Fahrrad oder Dreirad fahren, und waren somit für Jóhanna uninteressant. Dann kam der Winter, da war also nicht viel mit draußen spielen, aber jetzt, wo der Sommer schon in der Luft liegt, tun die Zwillinge nichts lieber, als auf der Straße zu spielen, wie man das halt so macht. Habe ich im Prinzip auch nichts gegen, aber sie haben nur noch Augen und Ohren für Jóhanna: Jóhanna ist ohne Schuhe und Jacke draußen, die Zwillinge ziehen ihre Schuhe und Jacken aus. Jóhanna fährt ohne Helm Fahrrad, die Zwillinge auch. Zu Ostern haben sie nämlich Fahrräder von den Großeltern bekommen und seit einer Woche können sie auch damit fahren, mit Stützrädern, versteht sich von selbst, nur das Bremsen klappt nicht so.

Besonders Margrét ist total auf Jóhanna fixiert und diese weiß das zu ihrem Vorteil zu nutzen. Jóhanna hat nämlich kein Fahrrad und nimmt sich, solange Erna Steina noch nicht draußen ist, das von ihr. Dann kommt Erna Steina auch raus, ich muss Jóhanna erst sagen, dass sie das Fahrrad jetzt abgeben muss, und sofort geht Jóhanna zu Margrét, diese überlässt ihr ihr Fahrrad und holt sich stattdessen den Roller. Ich weiß, ich weiß, ist nicht meine Sache, aber ich will „meine“ Zwillinge doch nur beschützen. Meistens jedenfalls. Manchmal hätte ich auch nicht übel Lust, sie einfach mit dem Fahrrad auf die Schnauze fallen zu lassen. Jóhanna hier, Jóhanna da. Ich will sie um Himmels willen nicht davon abhalten, erste soziale Kontakte außerhalb des Kindergartens zu knüpfen, aber wenn ich dann sehe, dass Jóhanna durch fremde Vorgärten stiefelt, die Zwillinge natürlich immer hinterher, oder sie die Zwillinge dazu ermuntert den Berg in halsbrecherischer Geschwindigkeit herunter zu fahren, kriege ich manchmal einfach zu viel. O je. Klinge ich eifersüchtig und kleinbürgerlich?

Ich weiß, Kinder brauchen ihre Erfahrungen, aber sie sind doch erst 2 Jahre alt. Abgesehen davon hat das gar nichts damit zu tun, vielmehr geht es mir darum, dass ich mich überflüssig fühle und, was noch viel schlimmer ist: Jóhanna untergräbt meine Autorität! So lächerlich das auch klingen mag, es hat wirklich lange gedauert, bis die Zwillinge sich an mich gewöhnt und mic akzeptiert haben und jetzt habe ich das Gefühl, wieder von vorne anfangen zu müssen und da habe ich absolut keine Lust drauf. Wenn ich am Abend sage, dass die Zwillinge jetzt nicht mehr raus gehen, dass sie aber gerne reinkommen kann, um drinnen mit ihnen zu spielen, kommt sie erst ganz scheinheilig rein, nur um ein paar Minuten später die Zwillinge im Flüsterton zu überzeugen, mit raus zu kommen. Und was ist das Geschrei groß, wenn man sagt, dass Jóhanna jetzt nach Hause geht und die Zwillinge hier bleiben. Steigere ich mich da zu sehr rein?
Wenn, dann mit Recht, wie ich finde, denn wie die Situation im Moment ist, werde ich für die Zwillinge immer mehr zur bösen Spielverderberin, die die Haustür abschließt und die draußen jeden ihrer Schritte verfolgt. Im Moment macht es einfach keinen Spaß mehr und ich merke, dass es Zeit für was Neues wird. Es ist nicht nur die ganze Jóhanna-Sache, an der ich merke, dass ich es nicht mehr gewohnt bin, nichts zu tun zu haben, zum Beispiel, wenn die Zwillinge bei Jóhanna drinnen sind (ein sehr chaotischer Haushalt übrigens, und das ist noch milde ausgedrückt, ich würde dort nicht wohnen wollen), sondern die Situation im Allgemeinen hier.

Ich bin sozusagen mit der Gesamtsituation unzufrieden und weiß selber nicht, warum. Anscheinend stößt mir Rakel und Eysteinns Erziehungsweise wieder auf, es reicht mir nicht mehr, dass sich die Kinder, wenn ich mit ihnen alleine bin, ganz anders handhaben lassen und sich nach wie vor von mir problemlos ins Bett stecken lassen, während es bei den Eltern in regelrechte Ins-Bett-Geh-Kämpfe ausartet, die sich bis spät hinziehen, sodass sie am nächsten Morgen auf Grund des fehlenden Schlafs erneut quengelig sind. Ich merke, dass ich selber ständig gereizt bin, alles wird mir schnell zu viel und ich frage mich ernsthaft, wie ich es so lange ausgehalten habe.

Ein Beispiel gefällig? Nehmen wir gestern Abend: Island im Viertelfinale vom ESC, fängt um 19 Uhr an, Rakel und Eysteinn gehen auf den Golfplatz, also ist geplant, es eine Stunde später zu schauen. Hier gibt es bei den zwei Hauptfernsehsendern noch jeweils eine Plus-Version mit demselben Programm, nur jeweils eine Stunde später, das ist sehr praktisch, sag ich euch. Ich also mit den Kindern alleine, die Zwillinge und Jón sind bei den Nachbarn, ich bringe Sóley ins Bett und schaue trotzdem schonmal beim Viertelfinale rein, einfach, weil ich genau weiß, dass es nachher nicht in Ruhe möglich sein wird. So ist es dann auch: Rakel und Eysteinn kommen heim, mittlerweile sind die Kinder zu uns rüber gewechselt und rennen, schreien, hüpfen und heulen. Wir drei essen, danach geht Jóhanna nach Hause, Margrét schreit sich die Seele aus dem Leib. Zur Beruhigung kriegt sie Kekse, die sich ganz allein für sich beansprucht, wenig später heult auch Erna Steina. Jón kommt weinend rein, er ist mit dem Fahrrad hingefallen und man sieht sogar Blut, oh nein. Alles wird stehen und liegen gelassen, die Wunde wird inspiziert, Jón wird getröstet und ins Bett der Eltern gelegt. Er hat Hunger auf Pizza, also wird eine Pizza bestellt. Alle laufen wie aufgescheuchte Hühner herum, Margrét heult immer noch wegen der brutalen Trennung von Jóhanna, mir ist es zu doof, als Einzige nichts zu tun, also nehme ich meinen Tee und gehe in mein Zimmer.

Solche Situationen sind ja nun wirklich nichts Neues, aber irgendwie komme ich damit nicht mehr klar. Vielleicht ist meine Geduld angesichts der Eltern, die sich das Leben mit den Kindern selber so schwer machen, nun restlos aufgebraucht oder vielleicht liegt es daran, dass ich selber auch zu wenig Schlaf bekomme, denn mittlerweile ist es hier selbst um Mitternacht für mich noch zu hell um problemlos einschlafen zu können.

Ich hoffe sehr, dass sich meine Gereiztheit wieder legt, ansonsten könnten die letzten Monate hier sehr unangenehm für mich werden. Aber bald kommt Mama mich ja besuchen – ich freue mich schon so so sehr! - und wenn sie wieder abfährt, habe ich nur noch einen Monat als Au Pair. Das ist zu schaffen, meint ihr nicht?

Heute hatte ich kinderfrei, weil ich dafür am kommenden Wochenende eingeplant bin, das war sehr erholsam. Ich war putzen und anschließend in Hellissandur, um die Putz-Zettel für vergangenen Monat einzureichen und um außerdem mitzuteilen, dass ich nur noch bis zum 23. Juni mache, denn ab Juli sind wir unterwegs, vielleicht Sommerhaus, vielleicht Keflavík, mal sehen. Anscheinend haben sie wirklich Schwierigkeiten, diese Stelle zu besetzen, denn ich wurde sogar gefragt, ob ich wiederkommen würde. Na ja, ist wirklich nicht mein Problem.
Ansonsten habe ich heute etwas Schlaf nachgeholt, war beim Friseur, habe noch ein bisschen nach Studiengängen gesucht (schon wieder ein neuer Favorit: Kultur- und Medienpädagogik) und euch endlich endlich mal wieder auf den neuesten Stand gebracht, das wurde aber auch Zeit.

Und trotzdem: Obwohl ich frei hatte, hat mir das gemeinsame Abendessen heute schon wieder völlig gereicht. Wie soll das noch werden?

Island ist gestern im Viertelfinale natürlich weiter gekommen, ich hätte auch nichts anderes erwartet. Am Samstag steht dann das ESC-Finale an. Meiner Meinung nach ist der deutsche Beitrag nichts im Vergleich zum isländischen, viel zu weichgespült und nullachtfünfzehn. Meine Einschätzung: Vielleicht nicht unbedingt der dritte Platz für Island, obwohl viele hier davon ausgehen, aber ich fände es nur fair, wenn Island vor Deutschland platziert würde. Ansonsten geht da was nicht mit rechten Dingen zu.
Wir werden sehen, bis zum nächsten Mal.