Als unser Basketballtrainer am Montag mit einem frisch gewachsenen Schnurrbart auftauchte, habe ich mir nichts weiter dabei gedacht, außer vielleicht, dass er die beiden jüngeren Mädels aus seiner anderen Mannschaft, die zusätzlich auch immer bei uns mit trainieren, wohl mehr aus Trainerverrücktheit als aus Sportverrücktheit, noch mehr in Verlegenheit, noch mehr zum Rotwerden bringen möchte. Schnurrbart belächelt, Thema vergessen.
Aber dann einige Tage später erinnert mich die Zeitung wieder daran: Ach ja, es ist ja März. Das bedeutet in Island: Mottu Mars. Jedes Jahr im März lässt sich der Großteil der männlichen Bevölkerung einen Schnurrbart wachsen - eine landesweite Aktion, ins Leben gerufen von der Krebshilfe. Um zu zeigen, dass die an Krebs Erkrankten nicht alleine stehen, nicht vergesen werden. Und außerdem, um Spenden für die Organisation zu sammeln. Denn jedermann kann ein Foto von sich und seinem Schnauzer auf die Seite der Krebshilfe hochladen und jeder kann für den Schnurrbart, der ihm oder ihr am meisten zusagt, Geld spenden. Eine nette Idee, finde ich. Eine Idee, die mal wieder die Kreativität und die Verbundenheit der Isländer zeigt. Wen es interessiert: www.mottumars.is
Und nun kommen wir zum Wochenrückblick, angefangen beim Wochenende. Die Großeltern sind am Freitag zu Besuch gekommen und bis Sonntag geblieben. Mitgebracht haben sie einen Koffer voll mit neuen Klamotten für die Kinder, frisch aus ihrem letzten Spanienurlaub. Grund genug für die Kinder, sich die Kleider vom Leib zu reißen und alles nacheinander anzuprobieren. Und dann nochmal. Die arme Oma kam gar nicht mehr hinterher mit dem Zusammenfalten. Da aber leider beim besten Willen kein Platz mehr in den Kleiderschränken ist, wurde die Woche über fleißig ausgemistet, aussortiert und umgeschichtet. Ja, sogar die Unmengen von Tüten, die ich nie zu zählen gewagt hatte, voll mit Klamotten, für die die Zwillinge noch zu klein sind, wurden aus den Regalen in der Schuh-/Jacken-/Krimskamskammer gezogen, ausgepackt, systematisch begutachtet, schriftlich erfasst und letztendlich deutlich reduziert in Kisten gepackt und wieder eingeräumt.
Natürlich war der Großeltern-Besuch auch Anlass für Rakel, wieder einmal ihre Kochkünste unter Beweis zu stellen: Pizza, Lamm, Salat, um nur einiges zu nennen. Eine gute Basis für mein freies Wochenende. Ein freies Wochenende, an dem zufällig in Grundarfjörður ein internationales Filmfestival stattgefunden hat, das Nothern Wave Filmfestival mit zahlreichen Programmpunkten: Vorführungen von Musikvideos, Fischsuppenverkostung und -wettbewerb, DJ-Sessions und so weiter. Ich bin am Samstag spontan dorthin gedüst, es wurden internationale Kurzfilme gezeigt, von halb 12 bis halb 4, das wollte ich mir doch nicht entgehen lassen. Und es war gut. Richtig gut. Und wieder einmal habe ich festgestellt, dass Stress oder strenge Bedingungen für die Isländer Fremdwörter sind. Ich kam etwas gehetzt dort an, weil ich es schon nach halb 12 war, da ich das Gemeinschaftshaus, wo das Ganze stattfand, nicht auf Anhieb gefunden hatte. Ich war fälschlicherweise davon ausgegangen, dass die Veranstaltungsorte in irgendeiner Weise ausgeschildert und angekündigt wären. Eine Flagge vor dem gesuchten Haus, ein Poster an der geschlossenen Tür, das war's. Als ich zögerlich die Tür öffne, empfängt mich Dunkelheit. Meine Augen müssen sich erst an die veränderten Lichtverhätnisse gewöhnen, ich kann nicht erkennen, wo ich bin, ob irgendwo Menschen sind, ob ich irgendwo bezahlen oder meine Jacke abgeben muss. Also gehe ich einfach den Filmstimmen nach, schleiche mich in einen dunklen Saal, auf der Leinwand läuft ein gezeichneter Kurzfilm, den Anfang habe ich verpasst. Kalte Schneelandschaft, schwarz-weiß, keine Dialoge, ich kann der Handlung nicht ganz folgen. Der zweite Film folgt direkt im Anschluss. Diesmal in Farbe, diesmal nicht ganz so düster, sodass ich etwas von meiner Umgebung erkennen kann. Außer mir sitzen vielleicht noch 10 weitere Leute im Saal, verstreut auf ihren Plätzen, Staub schwebt im Strahl des Projektors. Der Film kommt aus Spanien und handelt von einer Rettung von zwei Bergsteigern in einem Schneesturm. Schon wieder Schnee, ich hatte eigentlich gehofft, dass die Kurzfilme mich in wärmere Gefilde transportieren würden, Schnee hab ich hier ja genug. Dazu kommt noch, dass der Film zwischendurch hängen bleibt, die Leinwand wird dunkel, ein Mauszeiger wandert darüber, es geht weiter, aber diesmal ist die Bild- und die Tonspur leicht verschoben. Wenn das nicht bald besser wird, fahre ich wieder, denke ich mir.
Aber es wird besser. Nach dem zweiten Film kommt ein Sprecher ans Mikro, entschuldigt sich für den Zwischenfall und kündigt den nächsten Film an. Alles auf Englisch. Aha, also doch international. Im Laufe des Tages füllt sich der Saal immer mehr, ich wechsel von meinem Platz in der vorletzten Reihe ganz weit nach vorne, weil die Köpfe mir die Sicht auf die Untertitel versperren. Es folgt ein guter Kurzfilm nach dem anderen, unheimlich intensiv, es ist mucksmäuschenstill im Saal, nach jedem Film brandet Applaus auf. Filme aus der ganzen Welt. Estland, Polen, Iran, Mongolei. Von manchen sind die Regisseure anwesend und sitzen unbemerkt und unerkannt im Publikum bis sie angekündigt werden und ein paar Worte zu ihrem Film sagen, aber wirklich nur ein paar. Im Raum nebenan, nur durch einen samtroten Vorhang getrennt, wird Kaffee und Kuchen verkauft, gedämpftes Gemurmel klingt herüber, stört aber nicht die Intensität und den Filmgenuss. Wer mag, kann auch seine mitgebrachten Sachen essen, das kümmert niemanden.
Nach zwöf Kurzfilmen, deren Länge variiert, mal 4 Minuten, mal 36, bin ich immer noch völlig in ihren Bann gezogen und finde nur sehr langsam in die Realität zurück.
Es war eine einmalige und berauschende Erfahrung, die ich so noch nie gemacht habe.
Hier eine Kostprobe, einen Film habe ich doch tatsächlich im Internet gefunden. Aber ihn sich zu Hause anzusehen, das ist nicht dasselbe.
Am Sonntag dann werde ich von lauten Stimmen geweckt. Die Stimmen werden lauter und lauter, es wird geschrien. Diesmal sind es nicht die Kinder. Eysteinn und sein Vater brüllen sich an. Später steigen auch Magga und Rakel mit ein. Ich habe keinen Schimmer, worum es geht, ich will es auch gar nicht wissen. Ich will schlafen. Als ich später nach oben komme, scheinen sich die Gemüter zumindest oberflächlich wieder beruhigt zu haben. Beim Abschied der Großeltern gibt es eine theatralische Entschuldigungszeremonie à la "Mir tut es so leid. Nein, mir tut es leid, ich nehme alles zurück". Umarmungen über Umarmungen und ab ins Auto. Íris fährt auch mit, denn sie fliegt Rakels Eltern besuchen, die zur Zeit in Florida residieren. Warum hat mich niemand gefragt, ob ich mit möchte? Jedenfalls muss ich mir jetzt für ca. zwei Wochen keine Sorgen um mein Zimmer machen. Hab ich euch die Story schon erzählt? Ich glaube nicht.
Einschub:
Schon seit einiger Zeit fielen mir immer wieder Sachen in meinem Zimmer auf, die ich nicht so in Erinnerung hatte. Nur Kleinigkeiten, meistens war irgendwas anders, wenn ich vom Basketball wieder kam. Ein Kaugummi weniger, das frisch geöffnete Paket liegt anders als ich es zurück gelassen habe, mein Handtuch ist auf den Boden gefallen, mein Nagellack ist plötzlich unauffindbar. Sachen, die vielleicht doch anders passiert sind, die ich falsch im Kopf haben könnte, die ich verlegt habe. Und mein Zimmerschlüssel ist ja auch schon vor Ewigkeiten verschwunden. Abgesehen davon, dass ich mein Zimmer wirklich nicht abschließen müssen möchte. Aber dann, vorletztes Wochenende, als wir alle nach Reykjavík/ Keflavík gefahren sind, aber Íris mit einer Freundin hier geblieben ist, habe ich mir doch Gedanken gemacht. Also kam mir eine simple, aber geniale Idee: Ich klebe einen Zettel in die leere Kaugummipackung, auf dem steht, dass Íris die Finger von meinen Sachen lassen soll, und platziere diese demonstrativ und deutlich sichtbar auf meiner Kommode. Also kann sie den Zettel nur sehen, wenn sie wirklich in mein Zimmer kommt und sich mal wieder ohne zu Fragen ein Kaugummi nehmen will. Als ich Sonntagabend zurück in mein Zimmer komme, liegt der Zimmerschlüssel plötzlich wieder auf meinem Bett. Wie mag er da nur hingekommen sein? Ich hoffe, da hatte jemand ein furchtbar schlechtes Gewissen und endlich gemerkt, dass ich werder dumm noch blind bin.
Einschub Ende.
Mein Portfolio für die FH Hannover ist mittlerweile fertig - danke danke danke, Corina - morgen stelle ich die Bilder vermutlich ins Fotoalbum dann könnt ihr alle euren Senf dazu geben.
Ist diese Woche irgendwas außergewöhnliches passiert? Der Winter hat uns wieder voll im Griff, schneeweiße Straßen wohin man sieht. Langsam hätte ich gerne Frühling, bitte. Aber er ist unterwegs, ganz bestimmt. Heute morgen war es um 8 Uhr schon hell, ich dachte, ich guck nicht richtig, wann ist das denn passiert? Und die Sonne lässt sich auch immer öfter blicken, das ist schön.
Und jetzt ist aber Schluss für heute, sonst ist gleich bei euch schon morgen und dann muss ich die Überschrift ändern und dazu habe ich keine Lust. So, das war mal wieder ausreichend Lesestoff, ich hoffe, es hat euch gefreut. Bis zum nächsten Mal.
Gut gemacht,Ester,ganz ohne die Grossen einzuschalten.Schlau und diplomatisch.
Photosession
Gut gemacht,Ester,ganz ohne die Grossen einzuschalten.Bildende Bilder.
Meine Favoriten 2/6/19/22/23/29/44/46
Ich bin beeindruckt.Viel Glück!
Nicht nur die Isländer sind kreativ, um auf Krebs aufmerksam zu machen. In London oder vielleicht auch in Groß Britannien gibt es einen Monat in dem sich die Männer einen Schnurbart wachsen lassen, es ist der November und daraus wird dann der Movember. Ich hab die Idee damals nicht so ganz verstanden und verstehe sie immernoch nicht. Ich bezweifle, ob es überhaupt etwas nützt. Aber naja.