Mittwoch, 29.02.2012
Mir war bis gestern gar nicht bewusst, dass 2012 ein Schaltjahr ist. Umso mehr freue ich mich über den geschenkten Tag. Denn stellt euch mal vor: Wenn es nicht so wäre, hätte diese Woche einen Tag weniger gehabt. Und noch mehr Stress ist das letzte, was ich im Moment gebrauchen kann. Seit heute ist der Stress vorbei, sonst würde ich ja nun nicht diese Zeilen schreiben. Danke, liebes Schaltjahr!
Mir kommt es so vor, als hätte ich mich schon ewig lang nicht mehr gemeldet, dabei hab ich euch ja letzte Woche erst virtuelle Karnevalsgrüße geschickt. Die Zeit vom letzten Mittwoch bis heute kam mir mindestens vor wie zwei Wochen. Anscheindend ist viel passiert. Los geht's:
Freitagnachmittag sind wir Richtung Reykjavík aufgebrochen. Damit fing der Stress schon an. Nicht nur, dass ich freitags mit dem Putzen unseres Hauses, das eindeutig am schweißtreibendsten ist im Vergleich zu den anderen, und der Wäsche ohnehin genug zu tun habe - nun kam noch das Packen für mich und Sóley hinzu. Also blieb kaum Zeit zum Ausruhen für mich und ohne mein fast schon alltägliches halbstündiges Mittagsdösen kann ich schon mal etwas grantig werden. Besonders, da ich letzte Woche noch mehr als sonst unter Schlafmangel zu leiden hatte.
Ihr werdet jetzt vielleicht sagen: Packen für ein Wochenende, das ist doch schnell gemacht. Darauf sage ich: Ha, da kennt ihr mich aber schlecht. In Deutschland erforderte das ja schon für mich ausgeklügelte Überlegungen, aber hier ist das nochmal etwas ganz anderes. Hier muss man wirklich für jedes Wetter gewappnet sein: Sonne, Schnee, Hagel, Regen, Wasser von oben, Wasser von unten, eventuelle Vulkanausbrüche, Stürme und Lawinen. Hier braucht man vielleicht wirklich ein zusätzliches Paar Schuhe zum Wechseln. Und wenn man sich dann in der großen großen Stadt zusätzlich von seiner besten Seite zeigen will, kommt da einiges an Klamotten zusammen. Das alles muss dann noch in eine eingermaßen platzsparende Tasche passen, denn immerhin stehen noch sieben - nein sechs, Íris war nicht mit - andere Leute vor denselben Problemen und das Auto hat nunmal nur einen Kofferraum und da muss auch noch der Rollstuhl Platz finden.
Ihr merkt: Packen, sei es auch nur für ein Wochenende, braucht viel Zeit. Natürlich habe ich schon Donnerstagabend angefangen, aber ein paar überlebenswichtige Dinge können eben erst kurz vor der Abfahrt eingepackt werden und um diese nicht zu vergessen, kann ich zum Glück eine meiner Lieblinsbeschäftigungen nutzen: Listen schreiben. Ich liebe es, Listen zu schreiben. Hab ich euch schon erzählt, dass ich, seitdem ich hier bin, eine Liste führe, wie ich meine potentiellen Kinder auf gar keinen Fall erziehen werde? Und dann gibt es natürlich noch die Liste, wo drauf steht, was für Listen ich noch machen muss. Alle Listen befinden sich in einem völlig chaotischem Block wild durcheinander. Wenn ich diesen Block öffne, schauen mich die zerknickten und unsortierten Listen vorwurfsvoll an, da ich sie immer noch nicht abgearbeitet habe. Ein Beweis dafür, dass sich Listen-Schreiben und Unordnung nicht ausschließen. Liebe Listen, euch zu erstellen und euch abzuarbeiten sind zwei verschiedene Paar Schuhe, nehmt's bitte nicht persönlich.
Aber ich schweife ab. Also, den Großteil habe ich Donnerstagabend schon gepackt. Deshalb der Schlafmangel? Auch, aber nicht nur. Denn letzte Woche habe ich mich endlich dazu aufgerafft, mich für meinen Traum-Studiengang zu bewerben. Nein, ich muss es anders sagen: Ich wurde aufgerafft. Danke nochmals für den Tritt in den Hintern, Franzi. Ich scharwenzel schon seit geraumer Zeit um den Studiengang "Fotojournalismus und Dokumentarfotografie" an der FH Hannover herum, aber eigentlich wollte ich mich erst nächstes Jahr bewerben. Ganz bequem von Deutschland aus. Aber du hast ja Recht, liebe Franzi, warum sollte ich es nicht dieses Jahr zumindest schon einmal probieren? Also probiere ich es jetzt, schaden kann's ja nicht. Meine Motivation hat seit dieser Entscheidung mehrere Phasen durchlaufen.
Phase 1- Mitte letzter Woche: Jaaaa, ich bewerbe mich! Ich schaff das! Ich kann alles schaffen! Meine Mappe mit drei Fotoarbeiten bestehend aus jeweils 10 bis 20 Bildern muss zwar schon am 15. März in Hannover sein, aber nichts ist unmöglich!
Phase 2 - die Nächte der Mitte der letzten Woche: Iden schwirren durch meinen Kopf. Und sie schwirren und schwirren. Was für drei Fotoarbeiten soll ich abgeben? Eine Arbeit muss auf jeden Fall eine Reportage sein, die in irgendeiner Weise mit Menschen zu tun hat. Die Rettung: Zum Glück fahren wir am Wochenende nach Reykjavík, da gibt es Menschen. Und da gibt es den Flohmarkt mit den interessantesten Menschen überhaupt. Jaaaa, das ist die Idee!
Phase 3 - gleichzeitig mit Phase 2: Ich will die Mappe nicht aus Island abschicken, das ist mir zu riskant. Also brauche ich jemanden in Deutschland hilf. Corinaaaa?! Du hast doch im Moment Semesterferien, oder? Willst du meine offiziell ernannte Fotos-in-Mappe-Kleberin sein? Jaaa? Du hast eigentlich keine andere Wahl, das selbst im Internet fast unauffindbare sechzigseitige 30x30 Ringbuch ist schon bestellt und unterwegs zu dir. Danke! Was wäre ich ohne dich?
Phase 4 - Samstagmorgen: Von Freitag auf Samstag waren Eysteinn, ich und die Zwillinge in Keflavík, weil Rakel im Apartment Freundinnen zu Besuch hatte. Es hieß aber, das wir Samstag so früh wie möglich, also quasi, nachdem die Zwillinge wach sind, in die Stadt fahren würden. Dass ich dafür so so früh aufstehen musste, habe ich gerne in Kauf genommen. Denn ich wollte unbedingt zeitig auf den Flohmarkt. Also, Samstagmorgen, 11 Uhr, der Flohmarkt hat gerade aufgemacht, wir hängen immer noch in Keflavík rum. Meine Gedanken: Ich hätte viel viel viel länger schlafen können. Ich will jetzt endlich losfahren! Ich will jetzt endlich loslegen! Grrrr. Wenn Eysteinn sich nicht bald dazu bequemt, seine Schlafanzughose gegen ein Kleidungstück einzutauschen, das sich auch außer Haus sehen lassen kann, springe ich hier noch im Dreieck.
Phase 5 - Samstag, tagsüber: Erst in und um die Harpa, ihr wisst, die Konzerthalle, herum einen Haufen Fotos machen, denn das Thema der anderen beiden Bildergruppen ist frei wählbar, also auch Architektur, dafür ist dieses Gebäude ja perfekt. Danach endlich auf dem Flohmarkt. Ja, und so viele interessante Leute hier. Genauso habe ich mir das vorgestellt. Manche wollen nicht fotografiert werden, für andere ist es eine Ehre. Mit den meisten führe ich nette Gespräche. Ich kaufe viele Sachen, die ich eigentlich nicht brauche, die aber vielleicht die Chancen auf ein gutes Foto erhöhen. Darunter zum Beispeil eine Broschüre über den Islam. Der Standinhaber denkt, glaube ich, dass ich Islamistik studiere. Er lädt mich zu einer Diskussion bei einer Tasse Tee ein, wenn ich das nächste Mal in der Stadt bin und dann auch die Broschüre fleißig und ausführlich gelesen habe. Das hatte ich eigentlich nicht vor, aber trotzdem lasse ich meine richtige Email-Adresse da. An einem anderen Stand kaufe ich eine Kette und unterstütze damit ein Projekt in Ghana. Von meinem Geld können zwei Kinder ein Jahr zur Schule gehen. Kann ich das glauben? Ich würde es gerne.
Nach dem Flohmakt noch ein bisschen durch die Stadt laufen und jede bemalte Hauswand ablichten, wenn ich schonmal dabei bin, wer weiß, vielleicht kann man da ja auch noch was draus machen.
Phase 6 - Sonntag, Montag, Dienstag: Gut, jetzt habe ich hier einen Haufen Fotos. Nun muss ich die besten heraussuchen. Ich kann mich nicht entscheiden. Wie sehen sie auf dem Papier aus? Warum sind 20x30 Abzüge so teuer? Nein, bei Photobox bestelle ich nicht mehr. Erst alle Fotos weg, die verwackelt, unscharf oder ähnliches sind. Oh, sind ja nur noch hundert übrig. In die Mappe passen höchstens 60. Letztendlich bestelle ich 70, die endgültige Auswahl und Reihenfolge wir dann in einer Skype-Session mit Corina geklärt, wenn die Abzüge angekommen sind. Also, die Fotos sind bestellt, ändern kann ich jetzt nichts mehr. Tief durchatmen. Pause.
Phase 7 - Gestern Nachmittag, unsanfte Unterbrechung der produktiven Phase 6: Telefonat mit dem Professor des Studiengangs. Darauffolgende Ernüchterung. Wir sprechen 15 Minuten lang. Verzeihung, sagte ich, dass wir sprechen? Er spricht. Fast auschließlich. Ich stelle meine Fragen und bekomme darauf Antworten. Sehr ausführliche, teilweise mit leeren Phrasen gespickte Antworten. Antworten, die eigentlich andere Fragen beantworten, aber nicht meine. Ich frage nach dem Unterschied zwischen einer Serie und einem Essay. Ich bekomme den Unterschied zwischen einer Reportage und einem Essay erklärt. Ich versuche hier den Wortlaut des seinerseits Gesagtem, das mir am Meisten aufgestoßen ist, ungefähr wieder zu geben: Unser Studiengang ist der Beste. Wir sind die Besten. Zu uns kommen nur die Besten. Sie kommen aus der ganzen Welt. Wir wollen nur die Besten. Wir wollen keine Sprinter, wir wollen Langstreckenläufer. Und überhaupt, man geht doch nicht ins Ausland, wenn man weiß, dass man sich für einen kreativen Studiengang bewerben will, wo fast immer Arbeitsproben verlangt werden. Und Leute, die nicht zu den Mappenberatungsterminen kommen, nein, die haben selten eine Chance. Trotzdem, ich freue mich sehr auf Ihre Bewerbung.
Mein Eindruck nach diesem Gespräch: Oh ha, da hört sich aber jemand gerne reden. Na gut, als Professor sollte man sich ja auch gerne reden hören. Oh ha, da ist aber jemand sehr von sich und seiner Arbeit überzeugt. Vielleicht ein bisschen zu sehr? Oder kann er es sich leisten? Natürlich bedanke ich mich trotzdem, dass er sich die Zeit genommen hat. Ich bedanke mich höflich. Ja, ich mache einfach das Beste draus. Ja, ich weiß, dass ich davon ausgehen muss, dass ich mich nächstes Jahr nochmal bewerben kann. Was ich nicht sage ist, dass er sich eigentlich dafür bedanken könnte, dass ich ihm mein Ohr für seine fünfzehnminütige Selbstdarstellung geliehen habe. Dass mir jetzt klar ist, warum meine zwei, drei konkreten Fragen telefonisch klären wollte anstatt sie einfach kurz und knapp per Mail zu beantworten. Dass ich mir nach diesem Telefonat nicht mehr sicher bin, ob ich mich nächstes Jahr überhaupt nochmal bewerben will. Ein Gutes hatte das Gespräch allerdings: Danach ging mir die Auswahl der Fotos wesentlich leichter von der Hand. Warum unnötig viel Geld für Abzüge ausgeben, die von dem Professor ohnehin voreingenommen betrachtet werden.
So, genug ausgelassen. Heute war der zweite Englischtest, nicht weiter erwähnenswert. Ab morgen geht dann wieder der Alltag los, ohne ständig die Fotos im Hinterkopf zu haben. Donnerstag, Freitag, dann ist Wochenende - frei. Ich freu mich. Was ich tun werde? Mich weiterhin über mögliche Studiengänge, Ausbildungsplätze, Praktikas etc. informieren. Bis dahin.
ewalter am 01.Mär 12
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Du bist doch meine Ester,
Listen schreiben ist,war und wird immer (m)eine fragwürdige Beschäftigung bleiben.
Achtung:Listen werden nie kürzer,nur länger.
Achtung:Sobald Du anfängst mit verschiedenen Farben zu schreiben,wird es zwanghaft.
JA,den Eindruck nach Deinem Telefonat mit Mister P.hatte ich nach
dem eingehenden Studium der Seite der FH Hannover auch.
Trotzdem ist es ein lohnendes Ziel.
Ich halte die Daumen,was auch immer Du Dir wünschst.
P.S.John Irving wird 70 und deshalb gibt es einen Dokumentarfilm:
John Irving und wie er die Welt sieht
Hast Du das dicke Buch eigentlich zwischen Listen und Photos gelesen?
Erlesene Grüsse ML