Montag, 21.11.2011
Ich dachte, heute Vormittag hätte ich endlich mal wieder Ruhe und sturmfrei in meiner freien Zeit, aber das hat leider nicht so ganz geklappt.
Dabei war am Donnerstag doch schon Elternsprechtag, weswegen Íris samt Freundin den ganzen Tag gelangweilt hier rumhing. Wusstet ihr, dass man gleichzeitig Computerspiele á la „Bello, dein virtueller Hund“ mit nervtötender Dudelmusik spielen, im Internet nach dem neuesten Song von Justin Bieber suchen und ihn sich dann auf voller Lautstärke anhören und sich gegenseitig die Haare flechten kann? Ich wusste es bis dato noch nicht, allerdings haben Íris und Freundin es mir bewiesen, obwohl ich gar nicht danach gefragt hatte.

Am Freitag dann, als ich Sóley für die Schule fertig mache, ist irgendetwas anders als sonst. Mir fällt nicht sofort auf, was, bis ich dann merke, dass ich über mir kein Fußgetrappel und kein Geschrei höre. Seltsam, anscheinend schlafen die Kinder alle noch. Das verstehe ich nicht, heute ist doch Freitag, da hat Sóley morgens Physiotherapie und deswegen müssen alle vor 8 Uhr das Haus verlassen.
Oder ist vielleicht doch schon Samstag? Nein, das kann nicht sein, gestern muss Donnerstag gewesen sein, denn Eysteinn ist mit Jón und Rakels Eltern aus Reykjavík wiedergekommen, nachdem ich am Mittwoch alleine mit den Zwillingen und Íris war, da Rakel und Eysteinn mit Sóley in die Hauptstadt mussten, zu irgendeinem Experten-Treffen, weswegen sie Jón bei den Großeltern abgeliefert haben, um mir die Arbeit zu erleichtern. Aber ich wäre auch schon mit vier Kindern zurecht gekommen, nachdem ich am Tag zuvor plötzlich mit fünf Kindern jonglieren konnte, da Jón, den ich eigentlich auf seinen Wunsch hin nach dem Kindergarten sofort zu einem Spielkameraden gefahren hatte, den grandiosen Einfall hatte, doch lieber mit besagtem Spielkameraden plus dessen Schwester hier zu spielen. Und das am Dienstag, wo Rakel lange arbeitet. Da war es dann auf einmal unwichtig, dass ich mich noch nicht mit meiner neuen Frisur angefreundet hatte – kein blond mehr, ganz kurz, hallo Ohren, lang nicht mehr gesehen.
Aber zurück zu Freitag und der ungewöhnlichen Stille. Ich gehe also hoch, um Sóleys Schulbrot zu schmieren, da begegne ich einer zerzausten Rakel im Schlafanzug, die sonst um diese Zeit eigentlich vor dem Spiegel steht und ihren Lippenstift nachzieht. Des Rätsels Lösung: Die Zwillinge sind krank, haben sich in der Nacht mehrmals erbrochen. Da melden sich doch unschöne Erinnerungen in mir. Was war da noch? Genau, am Mittwoch war's, genauer gesagt: Mittwochabend: Rakel geht zum Basketball, ich bleibe zu Hause mit Íris, den Zwillingen und Sóley, die ich aber schon ins Bett gesteckt habe. Rakel meint, ich kann probieren, die Zwillinge schlafen zu legen, muss ich aber nicht, sie könne es auch machen, wenn sie wiederkommt. Ich denke mir, nimm's als Übung und nach dem gröbsten Abschiedsschmerz lassen sie sich auch die Zähne putzen und ruhig ins Bett legen. Merke: Ins Bett legen heißt nicht, dass sie auch sofort einschlafen. Natürlich wird erst noch an der mit Milch gefüllten Pulla genuckelt, deren Funktion ich mittlerweile ernsthaft anzweifle. Denn wenn man husten muss, während man gleichzeitig Milch trinkt und das alles noch im liegenden Zustand stattfindet, führt das oft zu unschönen Folgen, wie Margrét nach einer trügerischen Viertelstunde, in der man keinen Mucks hört, erfolgreich demonstriert: Sie hustet, sie kotzt, sie weint. Dadurch wird Erna Steina aus ihrem wohligen Dämmerzustand gerissen, stellt fest, dass sie ja eigentlich gar nicht schlafen will und schreit ebenfalls. Ich beschließe, dass Margrét erstmal wichtiger ist, ziehe mit Íris' Hilfe das Bett ab, stecke Margrét in einen neuen Schlafanzug, stopfe alles in die Waschmaschine, säubere den Boden provisorisch. Margrét ist also erstmal wach. Damit kann ich leben, soll Rakel sich später drum kümmern. Nächster Punkt: Erna Steina. Ich gehe zu ihr ins Zimmer, warte, bis sie sich beruhigt, sage nochmal gute Nacht, verlasse das Zimmer wieder und kurz darauf fängt sie wieder an zu schreien. Da ich Eysteinns Methoden, wenn er die Mädchen ins Bett bringt, sorgfältig studiert habe, weiß ich, dass, wenn Erna Steina schreit, sie nicht aus dem Bett klettern wird, weil sie dazu schon zu müde ist und deswegen das Geschrei auch nach einer Weile wieder verstummt. So ist es auch. Als Rakel heim kommt, erwartet sie eine wache Margrét aber dafür auch eine stille, hoffentlich bald schlafende Erna Steina. Schade nur, dass wenige Minuten später an der Tür geklopft wird, weil irgendjemand abends um halb neun noch dringend selbstgebackenes Kleingebäck abgeben will. Das bedeutet Stimmengewirr. Das bedeutet, Erna Steina wird wieder wach und schreit und schreit und schreit.
Nicht mehr mein Problem, denke ich mir, und verziehe mich nach unten.

Nochmal zurück zu Freitag: Also, die Zwillinge sind krank. Rakel beschließt vorsichtshalber, zu Hause zu bleiben, obwohl das Schlimmste vorbei zu sein scheint. Heißt für mich: Wieder nicht das Haus für mich. Ich lege mich erstmal wieder ins Bett und beantworte sämtliche E-Mails, die schon lange und ungeduldig auf eine Antwort warten. Das ändert aber alles nichts, die Wäsche will gemacht werden, die Spülmaschinen ausgeräumt werden. Also erledige ich das, während die Zwillinge ihren Mittagsschlaf halten und Rakels Eltern es sich schon im Wohnzimmer gemütlich gemacht haben. Später am Tag trudeln auch Eysteinns Eltern ein. Neben den Großeltern bin ich natürlich uninteressant, also machen Rakel und ich einen Deal, dass mein Arbeitstag erst um 17 Uhr anfängt, wenn ich Sóley abhole und ich mich dafür am nächsten Tag nach dem Mittagessen zwei, drei Stunden um Sóley kümmere. Kein Problem, hatte ohnehin noch keine Pläne für's Wochenende außer chillen und lange schlafen.

Daraus wird aber für's Erste nichts, wie sich am Samstag herausstellt. Zunächst werde ich viel zu früh von zwei Sms' geweckt. Eine von meinem Schwesterherz, die andere von meiner lieben Frau Mutter. Ja, ich lasse es mir eine Lehre sein und werde mein Handy demnächst ausschalten. Trotzdem bin ich nun wach, zumindest körperlich. Denn als ich auf die Uhr schaue – zehn vor Acht – trifft mich der Schlag. Ich springe aus dem Bett, schaue auch auf sämtlichen anderen Uhren in meinem Zimmer nach, ob es wirklich so ist, überlege mir schon, dass ich Sóley nie nie niemals in nur zehn Minuten fertig machen kann und wie ich mein Verschlafen Rakel und Eysteinn erklären soll. Dann erst wacht auch mein Gehirn auf und lässt mich wissen, dass doch Samstag ist. Beruhigt lege ich mich wieder hin. Auf diesen Schreck erstmal eine große Mütze Schlaf, denke ich mir, und genieße den Luxus, wieder einschlafen zu können.
Dieser Luxus währt aber nicht lange. Um ungefähr halb Zehn klopft es an meine Tür. Es ist Eysteinn mit der grandiosen Idee, dass ich mich ja auch jetzt um Sóley kümmern könnte. Also ziehe ich erst mich an und dann Sóley. Hab ich eigentlich schon erzählt, warum die Großeltern überhaupt angereist sind? Weil wir am Samstag nämlich Sóleys Geburtstag feiern. Sie hat zwar erst am 25., aber Vorfeiern ist das neue Nachfeiern, lasst es euch gesagt sein. Nachdem ich mich also die vereinbarte Zeit um Sóley gekümmert habe, backe ich einen Kuchen. Das hatte ich Rakel versprochen, nach dem sich mich gefragt hatte. Sie wartet mal wieder auf als hätte sie ein zwanzigköpfe Adelsfamilie zu bewirten. Freitagabend gab es Pitabrote zum Befüllen, Samstagmittag dasselbe, plus Rakels selbstgebackenes Gesundheitsbrot, das ich so liebe, besonders, wenn es noch warm ist, Samstagabend dann Steak, mit Kartoffeln und Salat. Und als Nachtisch meinen Schokokuchen. Er ist nicht so gut geworden wie der letzte den ich gemacht habe, als Theresa hier war, etwas trocken. Ich schätze mal, er war etwas zu lange im Ofen, aber mit viel Sahne geht’s. Trotzdem loben ihn alle in höchsten Tönen und auch Sóley mag ihn, obwohl sie sonst nicht so der Kuchen-Typ ist. Später gibt es dann vor dem Fernseher noch Nammi und Tee für alle.
Ich helfe, wo ich kann. Beim Tisch abräumen, beim Spülmaschine befüllen, beim Ausfegen. Ich weiß, es ist Wochenende und ich müsste es nicht machen, aber ich denke doch, dass es selbstverständlich ist, dass man, wenn man gemeinsam gegessen hat, auch gemeinsam aufräumt. Sagte ich gemeinsam? Moment, wenn man genau hinschaut, mache ich fast alles alleine. Aber ich mache es gerne, so habe ich wenigstens was zu tun und dafür habe ich ja beim Essen machen nicht geholfen. Außerdem sind ja Gäste da und ich habe so das Gefühl, dass Rakel sich ziemlich unter Druck gesetzt fühlt, eine perfekte Gastgeberin zu sein. Und es wird nicht mein Problem sein, wenn die Kinder sich zu sehr daran gewöhnen, dass es immer jemand gibt, der ihnen alles hinterher räumt. Wenn die Eltern sich zu sehr daran gewöhnen sollten, werden wir weitersehen.

Dafür komme ich am Sonntag kaum aus meinem Zimmer und eigentlich nur zu den Mahlzeiten hoch. Ich stelle fest, dass man sehr gut fast den ganzen Tag auf dem Bett verbringen kann, lesend und die Schokolade essend, die ich ursprünglich zu Weihnachten verschenken wollte. Tut mir Leid, Leute.
An diesem Wochenende habe ich gelesen: „Alles ganz isi“ von Alva Gehrmann. Endlich hab ich es durchgelesen. Man hätte mir ja auch mal sagen können, dass auf den letzten Seiten Ólafsvík explizit erwähnt wird, dann hätte das vermutlich nicht so lange gedauert. Außerdem habe ich „Wenn der Himmel uns küßt“ von Helen Humphreys angefangen (und mittlerweile durch). Eine wirklich gute Story über zwei Pilotinnen im Toronto der 30er Jahre. Sie wollen einen neuen Dauerflugrekord aufstellen – 25 Tage immer über der Stadt kreisen, in einer Maschine mit offenen Cockpits. Bei Sonne, Regen und Sturm, bei Tag und Nacht. Eine Unterhaltung ist unmöglich aufgrund des Motorenlärms, also denken sie sich eine eigene Zeichensprache aus. Nur minimales Gepäck, keine Fallschirme. Tanken und Essensübergabe in der Luft. Das Tankflugzeug wird von dem Mann der einen Pilotin gesteuert, der zudem noch den aktuellen Dauerflugrekord innehat. Sie sind also komplett abhängig von einem Konkurrenten. Und die ganze Stadt schaut ihnen zu. Daneben gibt’s natürlich noch ein paar andere wichtige Charaktere, die auf dem Boden geblieben sind. Aber letztendlich dreht sich alles um die Frage, ob die beiden Frauen die 25 Tage durchhalten werden. Das Ende verrate ich selbstverständlich nicht. Selber lesen, lohnt sich.

Ursprünglich hatte ich schon geplant, vielleicht mal wieder eine etwas längere Wanderung zu machen, aber das Buch war zu gut und das Wetter zu ungemütlich – kräftige Hagelschauer. Deshalb blieb es nur bei einem kurzem Spaziergang.

Kommen wir zu heute. Ich hatte mich darauf gefreut, endlich wieder das Haus vormittags für mich zu haben. Aber gerade als ich den Wochenendwäscheberg bewältigt habe, ruft Rakel an. Von wegen, Erna Steina ginge es nicht gut, der Kindergarten hätte angerufen, ob ich mich um sie kümmern könnte. Nur gut, dass ich meinen Plan, mich nochmal ins Bett zu legen, den ich fast jeden Morgen fasse und fast nie in die Tat umsetze, auch heute nicht verwirklicht habe. So bin ich immerhin schon fertig angezogen, als Rakel mir eine quengelige Erna Steina vorbeibringt. Ich gebe ihr was zu essen, dann lege ich sie ins Bett und höre nichts mehr. O ha, da war aber jemand müde. Also nehme ich das nächste Buch zur Hand und wache über dem schlafenden Kind bis Rakel sich von ihrer Arbeit loseisen kann. Ansonsten gab es heute keine weiteren besonderen Vorkommnisse. Hoffentlich geht ab morgen alles wieder seinen gewohnten Gang.

Mittlerweile ist auch in unserem Haus die Weihnachtsstimmung eingekehrt. Sehr aggressiv in Form von leuchtenden Rentieren, Schneeflocken und pinken Lichtkugeln in den Fenstern. Dazu noch eine Umgruppierung der Sitzmöbel im Wohnbereich, sodass nicht mehr alles auf den Fernseher ausgerichtet ist, die grünen Kerzen werden gegen rote getauscht, ein paar dudelnde Weihnachtsmänner, die mich jetzt schon nerven, werden aufgestellt und ein Stapel Weihnachts-CDs liegt nun neben dem CD-Player. Trotz alldem ist es schon gemütlich, wenn es schon um fünf Uhr nachmittags dunkel ist und sich das Haus dann in ein Rotlicht-Milieu verwandelt. Der Adventskranz steht schon, sieht aber nicht sehr frisch aus, immerhin ist es einer aus echtem Tannengrün, nur etwas vertrocknet. Das ist also der Auftakt zu meinem ersten Weihnachten, das ich weit weg von zu Hause in einem anderen Land verbringe. Ich bin mal gespannt.
Auch heute habe ich einen Musiktipp: Nachdem mein Laptop irgendwie weiß, dass ich in Island bin (und er auch), kriege ich auf Amazon immer öfter nordische Musiktipps. Und so bin ich auf Anna Ternheim gestoßen, eine Schwedin mit einer eher durchschnittlichen Stimme, deren Gesang aber trotzdem unglaublich intensiv klingt. Schöne skandinavische Musik, gemacht für gemütliche Wintertage, an denen man nichts dagegen hat, etwas melancholisch zu werden.
Habe ich nun alles geschrieben, was aufschreibenswert ist? Alles drin? Bestimmt nicht. Zum Schluss vielleicht noch eine kleine Anekdote von heute im Auto gefällig? Íris und Freundin hinten im Auto, sie unterhalten sich auf Englisch. Vielleicht, weil sie denken, dass ich sie dann nicht verstehen kann? Vielleicht, weil sie wissen, dass ich sie dann besser verstehen kann? Zwischen viel Gesinge und Gekicher fällt auf einmal der Satz: „I have a penis.“ Ach so. Ich verziehe keine Miene, beiße mir aber auf die Zunge. Der Satz fällt noch öfter. Im Ernst, waren wir früher auch so?